Expertenbeiträge
 
Trauen Sie keiner Meinung, am wenigsten Ihrer eigenen
Autor: Jörg Kolitsch
23.02.2021
 

Dieser Artikel richtet sich an Entscheidungsträger und Führungskräfte, deren Meinung viel Gewicht hat.
 

Wir haben ganz schnell zu allem eine Meinung

Egal worüber wir uns im Freundeskreis oder unter Kolleg*innen unterhalten, wir haben sofort eine Meinung. Auch wenn wir keine näheren Informationen zu dem speziellen Thema haben, ist unsere Sicht der Dinge schnell „fest in Stein gemeißelt“. Das hat mit unseren neurobiologischen Wahrnehmungsmechanismen (1) und der Affektheuristik (2) zu tun. Wir haben im Zusammenhang mit aufgenommenen Sinneswahrnehmungen sofort ein spontanes Gefühl – entweder ein positives oder ein negatives, das „gefällt mir“ oder es „gefällt mir nicht“.
 

Die Neurobiologie erklärt die Meinungsbildung

Der Hintergrund ist: unser Gehirn will vermeiden, dass wir von Informationen aus der Umwelt überfrachtet werden und es sorgt dafür, dass wir aus archaischen Überlebensgründen eine schnelle Einschätzung der aktuellen Situation erlangen. Es reduziert die aufgenommenen Reize, soweit es nur irgendwie geht. Darum entscheidet das Gehirn innerhalb von Sekundenbruchteilen, ob eine Sinneswahrnehmung bekannt oder neu, wichtig oder unwichtig ist. Unwichtiges bleibt im Verborgenen. Bekannte und relevante Sinneseindrücke werden von vorbewussten Routinen abgehandelt. In das Bewusstsein gelangen nur neue, potenziell wichtige Wahrnehmungen. Bei unbekannten und wichtigen Sinneseindrücken wird auch das Langzeitgedächtnis aufgerufen (1). Dabei stellen sich entsprechende Gefühle ein (2).
 

Jeder bewertet Wahrnehmungen auf seine Weise

Was das Gehirn als bekannt und wichtig einstuft, ist die Folge unserer individuellen Erfahrungen. So nimmt jeder Mensch gleiche Informationen anders wahr und bewertet sie sofort  und schon ist eine Meinung gebildet (3). Diese Meinung hat aber oft mit der Realität nichts gemeinsam, besonders wenn es um komplexe Sachverhalte geht, mit denen wir vorher noch nicht direkt in Berührung gekommen sind. Wenn wir also zum Beispiel beurteilen sollen, ob menschliches Handeln zum Klimawandel führt oder uns die Mutante B1.1.7 von Sars-CoV-2 gefährlich werden könnte, fehlen uns dafür persönliche Erfahrungen, und die eigene Meinung dazu entbehrt jeglicher Grundlage.
 

Für Tatsachen braucht es Experten

Wir können uns lediglich darauf verlassen, was Experten in wissenschaftlichen Untersuchungen herausgefunden haben. Gibt es unterschiedliche Expertisen, was ja nicht selten der Fall ist  vor allem wenn ein Phänomen noch neu und wenig erforscht ist  entwickeln wir gerne unsere eigene Auffassung. Wir vertrauen im Zweifelsfall eher den Informationen, die in uns positive Gefühle auslösen.
 

Fotoquelle: Pixabay

 

Tatsachen und Meinungen sind unterschiedliche Dinge

Wir müssen demzufolge streng zwischen Tatsachen und Meinungen unterscheiden, auch wenn es uns nicht immer gleich gelingt. Wenn Sie in einer verantwortungsvollen Position sind und sich bei einem bedeutsamen Thema eine fundierte Meinung bilden wollen, tun Sie gut daran, sich verschiedene Standpunkte von vertrauenswürdigen Mitmenschen einzuholen. Fragen Sie auch immer nach deren Begründungen. Entscheiden Sie dann, welche Meinung Ihnen am plausibelsten erscheint.

Trauen Sie deshalb keiner einzelnen Meinung, auch nicht Ihrer eigenen.
 

 

Literatur:
(1) Coaching, Beratung und Gehirn  Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Gerhard Roth, Alica Ryba, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2016, ISBN 978-3-608-94944-5
(2) Schnelles Denken, langsames Denken. Daniel Kahneman, Penguin Verlag / Siedler Verlag, München, 2016, ISBN 978-3-328-10034-8
(3) Was wir sind und was wir sein könnten.  Ein neuro-biologischer Mutmacher. Gerald Hüther, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2017, ISBN 978-3-596-18850-5

 

Lesen Sie einen weiteren Artikel von Herrn Kölitsch zur Neurobiologie in der Menschenführung bei "Business-Wissen.de"

Was Führungskräfte von der Neurobiologie lernen können


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