Expertenbeiträge
 
Serie Kulturkonflikte in der Pandemie
Die Mundmaske: gegensätzliche Kulturverständnisse
Autor: Joanne Huang
09.04.2020
 

Die Coronavirus-Pandemie verwüstet 2020 drei Wirtschaftskontinente mit verheerenden Folgen: Europa, Asien und Nordamerika. Die hohe Anzahl der Todesopfer ist eine soziale Katastrophe. Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind noch nicht abschätzbar. Während sich die Menschen allmählich von ihrem Schock erholen, erwacht ihr Überlebensinstinkt und sie suchen nach Wegen aus der Krise. Ein Nebeneffekt besteht in der Diskussion über das Tragen von Mundmasken als Hygienemaßnahme gegen die Ansteckungsgefahr, die sich zu einer interkulturellen Kontroverse zwischen West und Ost entwickelt.

 


Mundmaske im Rampenlicht

Asien-Vielreisende kennen es bereits: Menschen, vor allem in Ostasien, tragen oft Mundschutzmasken. In Corona-Zeiten ist das Tragen von Schutzmasken in Fernost sogar zur Pflicht geworden, sobald man sich unter Menschen begibt oder öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Während Ostasiaten auf den Schutzeffekt einer Mundmaske schwören, stehen Westler dieser Maßnahme eher skeptisch gegenüber oder lehnen sie kategorisch ab. Das liegt daran, dass Mediziner sowie die WHO (Weltgesundheitsorganisation) bislang der Meinung waren, dass eine Maske hauptsächlich dem Fremdschutz dient und das medizinische Personal die Kranken dadurch vor einer möglichen Ansteckung schützt. Bei den Trägern selbst sei das allerdings nicht der Fall(1).

Drei Monate nach dem Ausbruch der Pandemie entsteht ein Sinneswandel in Europa und den USA. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellte fest, dass eine einfache Maske nachweisbar die Virenmenge senkt und dem Fremdschutz dient. Auch der Träger selbst sei begrenzt geschützt(2). Die Behörden und Institutionen ändern ihre Haltung und empfehlen Masken als zusätzliche Schutzmaßnahme(3). Trotzdem ist die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht groß. Warum tun sich Westler so schwer damit und wehren sich dagegen? Es wäre falsch, diese ablehnende Haltung schlicht als Sturheit einzustufen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man den Grund in tiefsitzenden kulturellen Wurzeln, die letztendlich bestimmte Sichtweisen und Überzeugungen bekräftigen.


Kulturelle Gegenpole

•Kulturelle Identität
Die Abneigung der Westler gegen Mundmasken hat einen kulturellen Hintergrund. Europäer sind dazu erzogen worden, ihre eigene Meinung frei zu äußern. Diese Offenheit ist ein Bestandteil der europäischen Kultur, die Meinungsfreiheit ist Teil der Demokratie. Eine Mundmaske wirkt wie ein Maulkorb, der mit Freiheitsberaubung und Sprechverbot assoziiert wird. Europäische Werte beruhen unter anderem besonders auf Individualität, persönlicher Identität, Authentizität und persönlicher Freiheit (Marchal,4). Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht entspricht dem Grundbedürfnis der Europäer nach einem respektvollen Umgang miteinander (vgl. Rötzer,5). Ein teilweise bedecktes Gesicht verhindert, eine Einschätzung des Gegenübers vornehmen zu können und provoziert dadurch Misstrauen. Das Tragen von Masken als persönlicher Gesundheitsschutz im Widerspruch zu den eigenen Wertvorstellungen ist zwar zur Not machbar, aber für viele erst die allerletzte Möglichkeit.

Asiaten hingegen haben andere Sensibilitäten als Europäer. Das hierarchisch aufgebaute Sozialsystem mit der Priorität, die soziale Ordnung in den Vordergrund zu stellen, bestimmt dort die Verhaltensregeln. Statt die persönliche Meinung offen vorzutragen, nehmen Asiaten lieber Rücksicht auf die Gruppenharmonie und entscheiden sich oft dafür, sich zu fügen. Mundmasken sind hier zwar ein Mittel zum Wohl der Gemeinschaft, bietet den Individuen aber auch einen Freiraum, für sich allein zu sein.

Fotoquelle: Pixabay

•Höflicher Umgang miteinander
Die Integration der Mundmaske in die Alltagskultur Ostasiens hat noch keine lange Geschichte. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Masken im Alltag kaum zu sehen. Nach der Sars-Epidemie 2002/03 ist die Benutzung von Masken in Taiwan und Japan selbstverständlich geworden. Ist man erkältet oder fühlt man sich krank, legt man eine Maske an. Sie hat die Funktion nonverbaler Kommunikation, es wird ein Signal an die Umwelt gesendet: 'Achtung! Ich bin krank. Komme mir bitte nicht zu nahe'. Aber auch gesunde Menschen können sich mit Hilfe einer Maske vor Bakterien und Feinstaub schützen. Demnach hat die Maske eine doppelte Schutzfunktion: für den Träger und die Mitmenschen. Diese Maßnahme zum Schutz Anderer wird in Ostasien als höfliche Geste im Sozialleben bewertet und geschätzt (Huang,6). Im Laufe der Zeit fand man weitere nützliche Einsatzmöglichkeiten für die Maske, beispielsweise, wenn das Make-Up nicht perfekt ist, gegen Straßenstaub oder als Kälteschutz für das Gesicht im Winter.

In anderen ostasiatischen Ländern wie Hongkong und Südkorea war die Maske bis vor der Corona-Epidemie nicht verbreitet. Allerdings entdeckten die Hongkonger die Maske während der Demonstration 2019 als effektives Mittel gegen die Gesichtserkennung. In China hingegen wurde die Maske zum Schutz der nationalen Sicherheit gegen Terrorgefahr sogar verboten. Nach dem Ausbruch des Coronavirus gewinnt die Mundschutzmaske in allen asiatischen Ländern schnell an Bedeutung. Für die Bürger dient sie als wichtige Maßnahme zur persönlichen Sicherheit. Seither ist die Popularität der Mundmasken explodiert und sie sind als alltäglicher Hygieneartikel zum absoluten Muss geworden. Singapur, das als einziges Land in Asien die Auffassung vertrat, dass gesunde Menschen keine Maske brauchen, hat später auch seine Meinung geändert und empfiehlt den Bürgern jetzt deren Nutzung(7).
Was die nationale Sicherheit hinsichtlich der Terrorgefahr in China betrifft, beweisen die Chinesen ihr Können und verbessern zügig die Technologie der Gesichtserkennung. Mit einer Maske vor dem Gesicht liegt die Erkennungspräzision laut Angaben chinesischer Hersteller trotzdem bei etwa 99,87 %(8).

In Europa und den USA empörte man sich vor der Epidemie über das Tragen eines Nasen- und Mundschutzes in der Öffentlichkeit. Es wurde als unverantwortliches Verhalten wahrgenommen, denn ein Kranker, der nicht zu Hause bleibt oder im Krankenhaus liegt, setzt seine Mitmenschen der Gefahr aus, sich anzustecken.

•Solidarität
Der moralische Aspekt der Masken-Diskussion ist eine Frage der Perspektiven. In beiden Kulturkreisen werden Solidarität und Zusammenhalt in der Krisenzeit großgeschrieben. Masken werden zum Symbol sozialer Verantwortung (vgl. Röter, 3). Die feinen Unterschiede in der Wahrnehmung der Bedeutung vermitteln deutlich jeweils kulturspezifische Blickwinkel. Sozialverantwortung im Westen wird so verstanden, dass man keine Masken kauft, damit diese für das medizinische Personal zur Verfügung stehen. In Asien hingegen ist es richtig, Masken zu tragen, um die Anderen nicht zu gefährden.


Fazit:

Masken für die breite Bevölkerung ist eine pragmatische Vorbeugungsmethode zur Bekämpfung des Coronavirus. Es mag sein, dass sie nur wenig Schutz gegen das Virus bietet. Aber in kritischen Momenten kann auch die kleinste Handlung große Bedeutung gewinnen, die Infektion zu reduzieren und das Gesundheitssystem zu entlasten. Masken können zusätzlich laut BfArM 'das Bewusstsein für social distancing sowie gesundheitsbezogenen, achtsamen Umgang mit sich und anderen unterstützen' (9). Der Besinnungsprozess hinsichtlich der Masken und deren Zusammenhang mit kulturellen Werten ist allerdings enorm wichtig. Kultur entwickelt sich weiter und lebt von der aktiven Teilnahme des Volkes. Wie Masken nach der Corona-Krise letztendlich unseren Alltag beeinflussen, wird sich noch zeigen. Eines ist jedoch jetzt schon sicher: Unser Blickwinkel ist dadurch etwas erweitert worden.



Literatur:

(1) https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/, Abrufen: 03.04.2020
(2) https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/atemschutzmaske-coronavirus-maske-schutz-1.4867144, Abrufen: 05.04.2020
(3) https://www.zeit.de/wissen/2020-03/coronavirus-robert-koch-institut-livestream, Abrufen: 03.04.2020
(4) Marchal, Kai: Im Angesicht des Virus, https://www.zeit.de/kultur/2020-04/atemschutzmasken-coronavirus-asien-europa-unterschiede, Abrufen: 03.04.2020
(5) Rötzer, Florian: Vom Atemschutzmasken und Kulturen, https://www.heise.de/tp/features/Von-Atemschutzmasken-und-Kulturen-4683151.html, Abrufen: 03.04.2020
(6) Huang, Joanne: Sino-German Intercultural Management - Self-Organization, Communication and Conflict Resolution in a Digital Age, 2020, Springer Verlag
(7) https://www.straitstimes.com/singapore/health/wearing-of-face-masks-will-no-longer-be-discouraged, Abrufen: 05.04.2020
(8) https://hk.epochtimes.com/news/2020-03-21/12141242, Abrufen: 04.04.2020
(9) https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Medizinprodukte/DE/schutzmasken.html, Abrufen: 05.04.2020
(10) https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/verhaltensregeln.html, Abrufen: 03.04.2020


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